Die versunkene Stadt Vineta
Eines schönen Ostermorgens hütete ein blondgelockter Schäferjunge seine Herde in der Nähe von Koserow und Zempin. Da er Zeit und Muße hatte, blickte das Sonntagskind von den Dünen über die weite Ostsee. Plötzlich tauchte aus dem tiefen Meer eine Stadt direkt vor ihm auf. Voller Neugier durchschritt der Knabe das mit viel Gold verzierte Stadttor. Mit Staunen betrachtete er die kunstvoll erbauten Häuser. Auf dem Marktplatz breiteten prächtig gekleidete Kaufleute ihre herrlichen Waren aus. Kostbar gewebte Brokate, duftige Seiden und edlen Schmuck, Geschirr aus Silber und sogar Geräte aus Gold bestaunte der arme Hirtenjunge. Mit Verwunderung stellte der Knabe fest, dass in der ganzen Stadt, trotz des geschäftigen Treibens nicht ein Laut zu hören war. Aber die Händler lockten ihn wortlos zum Kauf. Nicht einen Pfennig besaß der Knabe und konnte nichts kaufen. So verließ er schnell die Stadt und kehrte zu seiner Herde zurück. Als er sich umschaute, sah er, wie diese reiche Stadt im Meer versank.
Kurz darauf gesellte sich ein alter Fischer zu dem Knaben. Dieser erzählte dem alten Mann sein Erlebnis. Der Fischer nickte: „Hättest du nur einen Pfennig gehabt und damit bezahlen können, so wäre die Stadt erlöst und nicht wieder untergegangen. Alle 100 Jahre kann man zu Ostern mit etwas Glück die Glocken von Vineta läuten hören und Sonntagskinder, so wie du, könnten die Stadt erlösen.“ „Aber warum ist diese schöne Stadt untergegangen?“ fragte der Knabe. Noch heute gilt die Antwort: Die Stadt Vineta war die reichste Stadt der Ostseeländer und galt sogar als Venedig des Nordens, denn der Handel hier war der Mittelpunkt der Begegnung zwischen den Völkern des Ostens, mit Völkern des Südens, Westens und Nordens. Wie aber jeder Überfluss zu Verschwendung führt, kannten die Bürger keine Grenzen. Sogar mit Brot wurden Mauern gekittet. Die gottlosen Einwohner voller Dekadenz kannten keine Moral. Vineta wurde von einer Meerjungfrau drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor seinem Untergang gewarnt. Jedoch verlachte man sie und niemand glaubte ihr. Schließlich erhob sich in einer finsteren Nacht ein gewaltiger Sturm. Er peitschte das Wasser gegen die Hafenmauern. Es stieg höher und höher und die stolze Stadt versank in den Fluten.
Noch heute kann man an Sonntagen bei stiller See über der Stelle, an der einst Vineta lag, die Glocken aus der Tiefe her auf klingen hören. Sie läuten leise und mit einem summenden Ton voller Trauer.
